Die Aussage wirkt paradox: Wer dauerhaft gestresst ist, kann nicht mehr auf Stress reagieren. Was steckt dahinter?
Der Cortisolspiegel im Körper bleibt nicht über den gesamten Tagesverlauf gleich, sondern folgt einem natürlichen Rhythmus. Nach einem Tief in der Nacht steigt er bis zu den frühen Morgenstunden kontinuierlich an, um dann nach und nach wieder abzusinken. Das natürliche Muster gleicht einer Meereswelle. Unter Dauerstress ist dieser Rhythmus gestört. Der Anstieg erfolgt später und rasanter erst nach dem Mittagessen, der Maximalwert ist weniger hoch. Gleichzeitig bleiben die Cortisolwerte auch in der Nacht erhöht. Insgesamt werden die Schwankungen über den Tagesverlauf also geringer und die Fähigkeit, auf Stress zu reagieren, nimmt ab. Die reduzierten Schwankungen im Cortisolspiegel gehen darüber hinaus oft mit einem erhöhten Grundspiegel einher, sodass der Körper über 24 Stunden hinweg einer höheren Cortisoldosis ausgesetzt ist.
Interessanterweise ist für viele Krankheiten der gestörte Cortisolrhythmus selbst und nicht die Cortisolgesamtmenge entscheidend. In einer Untersuchung wurden Zusammenhänge zwischen dem Cortisolrhythmus und Parametern für wahrgenommenem Stress, anthropometrischen Maßzahlen wie BMI und Waist-Hip-Ratio, Hormonen wie Testosteron, metabolischen Maßzahlen wie Insulin, Glukose, Trigylzeride, Gesamtund LDL-Cholesterin und Parametern wie Blutdruck und Puls festgestellt. Das Ziel sind also nicht möglichst hohe oder möglichst niedrige Cortisolspiegel, denn der Körper braucht Cortisol, um funktionieren zu können. Es geht vielmehr um eine Balance und um den Erhalt des natürlichen Rhythmus.
Aber auch dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel sind, unabhängig von den Störungen des Tagesrhythmus, ein Gesundheitsrisiko. Die Glucocorticoid-Rezeptoren, die dafür verantwortlich sind, dass die Zelle das vom Cortisol ausgehende Signal wahrnehmen kann, werden gegenüber den dauerhaft hohen Cortisolspiegeln zunehmend resistenter (Cortisolresistenz). Um dieser Resistenz entgegenzuwirken, produzieren die Nebennieren immer größere Mengen an Cortisol, was zur zunehmenden Erschöpfung der Nebennieren führt. Im Laufe der Zeit kann sich aus der Cortisolresistenz auch ein „Diabetes der Nebennieren“ entwickeln, bei dem die Nieren Cortisol und Adrenalin bei Bedarf nicht mehr ausreichend zur Verfügung stellen können: So fühlt sich Burnout an.
Die Parallelen zum Diabetes mellitus, der „Zuckerkrankheit“, sind deutlich erkennbar. Hier wird die Bauchspeicheldrüse zu einer immer weiter steigenden Insulinproduktion angeregt, während gleichzeitig die Insulinrezeptoren in der Muskulatur zunehmend schlechter auf das Insulin ansprechen. In der Folge kann der Blutzucker immer weniger gut reguliert werden.
Übertragen auf die Nebennieren bedeutet das: Sie produzieren immer mehr Cortisol, das immer schlechter wirkt – ein Teufelskreis. Beim Auftreten einer neuen Stresssituation hat der Körper dann nicht mehr die Möglichkeit, über eine gesteigerte Cortisol-Ausschüttung zu reagieren. Gleichzeitig ist in Situationen, in denen kein Cortisol gebraucht wird, zu viel davon vorhanden.
Die durch Glucocorticoid-Rezeptoren vermittelten Wirkungen des Cortisols betreffen zum Beispiel die Entzündungshemmung und die Unterdrückung der Immunfunktion. Beide funktionieren also immer schlechter. Gleichzeitig übt Cortisol seine Effekte auf den Zucker- und Fettstoffwechsel und den Säure-Basen- Haushalt auf anderen Signalwegen aus, die nicht auf die gleiche Weise unempfindlich gegen höhere Cortisolmengen werden, sondern nach wie vor bei einer höheren Cortisolausschüttung verstärkt ablaufen und damit aus dem Gleichgewicht geraten. Dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel tragen also zur Unterdrückung einiger Körperfunktionen bei, während andere über das normale Maß hinaus verstärkt werden. Diese Störung der Balance führt zur Entstehung vieler sogenannter Zivilisationskrankheiten, entweder direkt oder durch eine Verstärkung ihrer Entstehungsmechanismen.
Der amerikanische Biochemiker und Autor Shawn Talbott hat in seinem Buch “The Cortisol Connection” die gewollten kurzfristigen Wirkungen des Cortisols und die Gesundheitsprobleme zusammengetragen, die daraus resultieren können, wenn die Cortisolspiegel durch Dauerstress langfristig erhöht bleiben.
Cortisolwirkung auf den Stoffwechsel | Chronische Erkrankung |
---|---|
Gesteigerter Appetit, Muskelabbau, unterdrückter Fettabbau, verstärkte Fetteinlagerung | Übergewicht, Adipositas |
Unterdrückung des Immunsystems | Erhöhte Infektanfälligkeit |
Erhöhte Cholesterin- & Triglyzeridspiegel | Herz- & Gefäßkrankheiten |
Bluthochdruck | Herz- & Gefäßkrankheiten |
Veränderungen der Gehirnchemie (u.a. Dopamin, Serotonin) | Depressionen, Angststörungen |
Insulinresistenz, erhöhter Blutzuckerspiegel | Diabetes |
Verringerte Bildung von Neurotransmittern | Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme |
Schrumpfung von Hirnzellen | Alzheimer |
Verringerte Testosteron- & Östrogenspiegel | Weniger sexuelles Interesse |
Ausscheidung von Kalium, Magnesium, Calcium | Nerven- & Muskel schwäche |
Verstärkter Knochenabbau | Osteoporose |
Auf diese Wirkungen wollen wir im Folgenden genauer eingehen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass es für eine angemessene Hormonantwort auf Stress auf Folgendes ankommt: auf
- eine funktionierende und gut regulierte Hypothalamus- Hypophysen-Nebennierenrindenachse,
- ein balanciertes Cortisol-Testosteron-Verhältnis und
- einen meereswellenartigen Cortisol-Tagesrhythmus mit einem natürlichen Wechsel von Höhen und Tiefen.