Bevor wir zu den konkreten Strategien kommen, lohnt sich zunächst noch der Blick darauf, was „Stress“ eigentlich genau ist und von was er ausgelöst wird. Bisher hatten wir zwar allgemein von Stress gesprochen, die Auslöser aber nicht genau definiert. Wir haben uns dabei darauf verlassen, dass jede/r ein diffuses Verständnis von Stress hat, denn nicht umsonst sagen wir häufig, wie gestresst wir uns fühlen. Aber was genau stresst uns eigentlich? Die Menge der Dinge, die in zu kurzer Zeit getan werden müssen? Das Gefühl, den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden? Oder etwas ganz anderes?
In den sogenannten Whitehall-Studien wurden die Auswirkungen von Stress auf das Auftreten der Koronaren Herzkrankheit in mehr als 10000 Angestellten im öffentlichen Dienst in London untersucht. Das Ergebnis war zunächst nicht unerwartet. Je stärker die Personen unter Stress standen, desto höher war ihr Erkrankungsrisiko. Das Überraschende dabei: Wurden die verschiedenen Berufsgruppen miteinander verglichen, hatten nicht etwa die Personen in Führungspositionen das höchste Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, sondern diejenigen am unteren Ende der Kette mit niedrigerem sozialem Status. Diese Personen brachten zwar auch öfter Risikofaktoren für die Koronare Herzkrankheit mit wie Rauchen, Übergewicht, wenig Bewegung, wenig Freizeit. Diese Faktoren waren aber nur für 40 Prozent des erhöhten Risikos verantwortlich! Das bedeutet, dass ein niedrigerer sozioökonomischer Status (weniger Ansehen, weniger Verdienst) per se und nicht etwa nur durch daraus resultierende Faktoren mit einem erhöhten Risiko für die Koronare Herzkrankheit und einer erhöhten Sterblichkeit einhergeht.
Die Forscher erklären ihre Ergebnisse mit – wer hätte es gedacht – den Auswirkungen eines erhöhten Cortisolspiegels! 30 Minuten nach dem Aufstehen war dieser bei Personen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status deutlich erhöht gegenüber Personen weiter oben auf der Karriereleiter. Nicht der unter Dauerstrom stehende Manager, sondern der Straßenkehrer ist also am meisten gestresst. Eine finnische Studie, die die Stressfaktoren tiefgehender untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass es die fehlende Kontrolle über die eigene Tätigkeit ist, die Stress auslöst. Generell kann also das Gefühl, dass eine Situation vorhersehbar ist und sich innerhalb der eigenen Kontrolle befindet, Stress reduzieren. Das soll allerdings nicht bedeuten, dass Sie versuchen sollten, Ihr gesamtes Leben unter Kontrolle zu bringen! Der daraus resultierende Stress wäre enorm.
In weiteren Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass neben dem Kontrollverlust im Job auch Armut zu erhöhten Cholesterinspiegeln führt. Wer arbeitslos ist, mag daher weniger Termine haben, ist aber nicht zwingend weniger gestresst als ein Top-Manager mit einem verplanten Tag, aber auch genügend Einkommen. Ein weiteres Stressrisiko ist ein hoher Grad an Identifikation mit der eigenen Arbeit.
Neben dem Stress im Job ist auch unser Alltag heutzutage reich an Stressoren (Stressauslösern). Insbesondere Frauen leiden unter der Mehrfachbelastung durch Beruf und Familie, aber auch Männern wird immer mehr abverlangt. Hinzu kommen Ansprüche in der Freizeit, denn die will schließlich optimal genutzt werden! Darunter leiden dann schon Kinder, bei denen neben die immer weiter steigenden Leistungsanforderungen in der Schule auch noch Anforderungen durch Sport, Musikunterricht und vieles andere mehr treten. Am Ende steht das Gefühl, viel zu viel in viel zu kurzer Zeit zu erledigen zu haben.
Dazu kommt eine Dauerberieselung durch Fernsehen und Radio sowie die Allgegenwärtigkeit piepsender und klingelnder Smartphones. Wie lange halten Sie es aus, nicht auf Ihr Handy zu schauen? Sie könnten ja eine wichtige Nachricht verpassen – oder aber einen „Like“ durch einen Ihrer Freunde. Sherry Turkle nennt dieses Phänomen „disconnection anxiety“, auf Deutsch in etwa: das Beklemmungsgefühl, das entsteht, wenn wir nicht „verbunden“ sind. Sie führt es darauf zurück, dass wir uns, solange wir Nachrichten bekommen, von anderen wahrgenommen fühlen. Fehlt uns dieses Gefühl, werden wir nervös. Gleichzeitig entsteht aber auch Stress durch die empfundene Notwendigkeit, permanent online zu sein. Es fehlen uns Ruhepausen und Zeit für uns selbst, in der wir „runterkommen“ und im wahrsten Sinne des Wortes abschalten können.
Unsere Antwort auf all diese Reize, auf Termine und To-Do-Listen und WhatsApp-Nachrichten, ist oft der Versuch des Multitaskings, bei dem mehrere anstehende Aufgaben gleichzeitig erledigt werden sollen. Darauf ist das menschliche Gehirn allerdings nicht ausgelegt. Es kann immer nur eine Aktivität gleichzeitig ausführen, sodass Multitasking in Wahrheit bedeutet, immer wieder zwischen verschiedenen Aufgaben hin- und herzuschalten. Das führt zu geringeren Leistungen und höherem wahrgenommenem Stress, weil die Konzentration auf eine einzelne Aufgabe nicht möglich ist.
Multitasking kann man gut mit dem Stop und Go im Stadtverkehr vergleichen: Beobachten Sie einmal, wie viel Sprit verbraucht wird, wenn Sie beschleunigen, um dann gleich wieder zu bremsen. Genau das macht unser Gehirn beim Multitasking, wenn es zu einer Aufgabe beschleunigt, um dann eine Vollbremsung zu machen, um sich auf die nächste Mini-Aufgabe zu stürzen. Kein Wunder, dass wir am Abend so fertig sind!
Ein entspanntes (oder gestresstes) Leben beginnt übrigens vermutlich schon in der Schwangerschaft, da das Ungeborene nimmt die Hormonspiegel der Mutter als „normal“ wahrnimmt und seinen Stoffwechsel darauf ausrichtet. So haben die Kinder von Müttern, die unter einem Schwangerschaftsdiabetes leiden, ein höheres Risiko, bis zum Alter von 20 Jahren Übergewicht oder Adipositas, eine gestörte Glukosetoleranz oder einen Diabetes, ein Metabolisches Syndrom und Bluthochdruck zu entwickeln. Ähnliche Phänomene könnten auch beim Cortisol auftreten, indem beim Ungeborenen die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse durch erhöhte Cortisolspiegel der Mutter dauerhaft aktiviert wird. Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse ist für die Ausschüttung von Hormonen und Neurotransmittern, u.a. von Cortisol, verantwortlich. Das Kind kommt also in diesem Fall schon mit „schwachen Nerven“ zur Welt, die dann im Laufe des Lebens immer schwächer werden. Einen ähnlichen Einfluss haben traumatische Erfahrungen in den ersten Lebensjahren. Die Veränderungen werden vermutlich epigenetisch fixiert: Sie sind also erblich, ohne die DNA-Sequenz selbst zu verändern.