Salutogenese

Warum bleiben Menschen gesund?

Ein neuer Ansatz in der Medizin ist es, nicht mehr nach den Risikofaktoren zu fragen, sondern danach, warum ein Mensch – gerade trotz unzähliger Risiken – gesund bleibt. In den Gesundheitswissenschaften wird dieser Bereich Salutogenese genannt, begründet von dem israelischen Forscher Aaron Antonovsky. Ihm fiel bei einer Studie über Stressfolgen auf, dass eine bestimmte Gruppe der untersuchten Frauen die Problematik der Wechseljahre erstaunlich gut meisterte. Bei dieser Gruppe handelte es sich um Frauen, die den Holocaust überlebt hatten.

Aus diesen ersten Beobachtungen entstanden weitere Studien, in denen Antonovsky drei Faktoren herausarbeitete, die dafür verantwortlich gemacht werden, dass Menschen körperlich und psychisch gesünder sind:

  • das Gefühl der Verstehbarkeit (comprehensibility)
  • das Gefühl der Handhabbarkeit (manageability)
  • das Gefühl der Sinnhaftigkeit (meaningfulness)

des eigenen Lebens. Diese drei Grundempfindungen ergeben zusammen das Kohärenzgefühl (sense of coherence), das Gefühl einer „inneren Stimmigkeit“. Ein Mensch, bei dem dieses Kohärenzgefühl gut ausgeprägt ist, besitzt die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen, die Überzeugung, sein eigenes Leben gestalten zu können, und den Glauben, dass das Leben einen Sinn hat.

Dieses Grundgefühl ist die seelische Basis für eine gute Funktion des Immunsystems und unterstützt das Fliessen des Lebensstroms. Blockaden werden gar nicht erst aufgebaut, Krisen werden als Herausforderung und Chance begriffen. Die Ausprägung des Kohärenzgefühls wird entscheidend durch Erfahrungen in der Kindheit geformt. Wir haben aber in jedem Augenblick die Freiheit und die Möglichkeit, solche Prägungen zu erkennen und aufzulösen.

Die Gesundheitswissenschaft fragt intensiv nach den Möglichkeiten (Ressourcen), die jeder einzelne in sich trägt, um gesund zu bleiben. Man kann z.B. versuchen, durch die Gabe von Antibiotika eine entzündliche Erkrankung zu bekämpfen, indem man Krankheitserreger abtötet. Es ist aber auch möglich, einen ganz anderen Weg zu gehen, indem man den Organismus fähiger macht, mit dem Keim selber fertig zu werden. Der Einfluss der modernen Medizin (Medikamente, Intensivstationen usw.) auf die vorzeitige Sterblichkeit bei Herzinfarkt liegt ungefähr bei 12%. Unser eigener Einfluss liegt bei 54%. Hier zeigt sich, dass wir selbst sehr viel tun können, um sogar eine so gefährliche Erkrankung zu vermeiden.

Gesundheit und Krankheit sind keine starr abgrenzbaren Zustände, vielmehr bewegen wir uns ständig zwischen diesen beiden Polen hin und her. Entscheidend ist, dass wir lernen, unsere Gesundheitsressourcen zu nutzen:

  • Wie bewältigen wir drohende Erkrankungen und Krisen?
  • Über welche Informationen verfügen wir?
  • Welche Unterstützung können wir von unserer sozialen Umgebung erhalten?
  • Wie steht es um die Funktionsfähigkeit der körperlichen Regelsysteme?
  • Was können wir aktiv zur Stärkung unserer Gesundheit tun?
  • Wie sind wir in kulturelle Wertsysteme eingebunden?
  • Welche materiellen Ressourcen stehen uns zur Verfügung?

Die Gesundheitswissenschaften haben einen ganzheitlichen Grundansatz. Demnach ist es wichtiger, besser und kostengünstiger, die zahlreichen Fähigkeiten zur Gesundheit zu fördern, als ausschließlich damit beschäftigt zu sein, Krankheiten, Defizite und Krisen zu behandeln. Förderung der Lebenskräfte ist sinnvoller als Reparatur, Vorbeugen ist besser als Heilen.

Schauen Sie sich einmal in ihrer Umgebung um. Sie werden feststellen, dass es Menschen gibt, die trotz enormer Belastungen ihr Leben so gut meistern, die ihr Leben bejahen und lieben und in Krankheiten und Krisen wachsen. Diese Beispiele können uns ermutigen. Wir sehen, dass es so vielfältige Möglichkeiten gibt, sich nicht in das Tal der Resignation zu begeben. Wenn wir uns auf die Förderung des Gesunden konzentrieren, schwächen wir automatisch die Krankheitsprozesse. Kein Mensch ist nur krank, jeder trägt auch gesunde Aufbaukräfte in sich.

Wenn wir uns an diesen Stärken orientieren, erkennen wir, dass uns die Gefahren und Risiken des Lebens zu mehr Gesundheit verhelfen können, indem wir daran wachsen und reifen. Das Wissen allein reicht aber nicht aus. Erst wenn wir innerlich davon überzeugt sind, dass wir erfolgreich handeln können (Selbstwirksamkeit/ Kompetenzerwartung), können wir unsere Ziele auch im Alltag umsetzen. Die wichtigsten Erkrankungen werden in den nächsten Abschnitten als Folgen eines Erstarrungsprozesses betrachtet. Wenn wir verstehen lernen, dass es sich lohnt, frühzeitig diesem Prozess entgegensteuern, wenn wir den Mut finden, die innere Lebendigkeit wieder zu entdecken, können wir tatsächlich sehr viel erreichen.